Harninkontinenz und Beckenbodenschwäche gehen oft miteinander einher. Es ist daher wichtig bei allen Untersuchungen und der Therapieplanung, beide Erkrankungen zu berücksichtigen und dann gemeinsam – im Beckenbodenzentrum – interdisziplinär zu behandeln. Viele neue Behandlungsverfahren haben die Wiederherstellung von Kontinenz und Beckenboden in den letzten Jahren erheblich verbessert. Vor allem wenig belastende Verfahren kommen zunehmend zum Einsatz.
Definition
Die Harnentleerung ist eine unserer wesentlichen Körperfunktionen, die auf dem Zusammenspiel von Harnblase – also dem Speicherorgan für den Harn – und dem Schließmuskel beruhen. Einfach gesprochen liegen zwei gegenläufige Aktionen nebeneinander vor: Der Blasenmuskel entspannt, während er den Harn speichert. Gleichzeitig ist der Schließmuskel angespannt, um den Urin zurückzuhalten. Kommt es zu einer Störung in diesem zunächst einfach anmutenden System, sind vielfältige und komplexe Funktionsstörungen möglich.
Ein Symptom einer solchen Blasenfunktionsstörung kann die Harninkontinenz sein. Unter Harninkontinenz verstehen wir, wenn ungewollt Urin verloren geht. Der/die betroffene Patient/in ist also nicht in der Lage, den Zeitpunkt des Wasserlassens selber zu kontrollieren. Die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) definiert dies noch etwas genauer: Harninkontinenz ist ein „Zustand mit jeglichem unwillkürlichen Urinverlust, der den/die Patienten/in sozial und hygienisch belastet“. Viele urologische, gynäkologische, neurologische und diverse andere Erkrankungen können mit einer Harninkontinenz einhergehen. Dabei kann die Ursache im Bereich der Harnblase, der Harnröhre, des Harnblasenschließmuskels, der Beckenbodenmuskulatur, der Nerven oder beim Mann in der Vorsteherdrüse liegen. Wegen der Vielzahl der möglichen ursächlichen Organe ist immer eine sorgfältige, oft interdisziplinäre (also durch Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen durchgeführte) Untersuchung notwendig, um später dann die tatsächlichen Ursachen behandeln zu können.
Häufigkeit
10–40 % der Frauen und 3–11 % der Männer werden im Laufe ihres Lebens von einer Harninkontinenz betroffen sein. Allein in Deutschland sind also mehrere Millionen Menschen betroffen. Die Harninkontinenz stellt eine so häufige Erkrankung dar, dass von einer Volkskrankheit gesprochen werden kann.
Häufig entwickelt sich eine Harninkontinenz schleichend über einen langen Zeitraum, sodass zu Beginn wegen „der Geringfügigkeit“ des Problems zunächst keine Behandlung gesucht wird. Zunächst kommt es zu tröpfchenweisem Urinverlust, im Laufe der Zeit verschlechtert sich die Situation dann allmählich. Auch ist das Thema nach wie vor tabuisiert, sodass Betroffene sich oft nicht trauen, Hilfe aufzusuchen. Manchmal wird das Thema auch ärztlicherseits zu wenig ernst genommen oder damit abgetan, „das ist halt so und man muss sich damit abfinden“. Es wird hier auch von der verschwiegenen Erkrankung gesprochen. In vielen Fällen führt Harninkontinenz wegen der Befürchtung, „es könne etwas passieren und eine peinliche Situation auftreten“, dazu, dass sich die Betroffenen zurückziehen und weniger oder gar nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Angst vor Geruch und sichtbarem Einnässen sind die Hauptgründe. Nicht selten treten nach langem Leidensweg soziale Isolation und psychische Probleme auf. Dabei gibt es heute zahlreiche Möglichkeiten, eine Linderung oder sogar eine Heilung der Erkrankung zu erreichen.
Belastungsinkontinenz
Die Belastungsinkontinenz ist die häufigste Form der Harninkontinenz. Hierunter versteht man den unwillkürlichen Harnverlust bei körperlicher Belastung, Niesen, Husten oder Lachen. Sie wurde früher auch als Stressinkontinenz bezeichnet.
Typischerweise berichten die Patientinnen oder Patienten über einen Urinverlust beim Husten, Niesen, Aufstehen, Treppensteigen, Sport oder Gehen. Bei Frauen tritt diese Inkontinenzform besonders nach Geburten oder bei Übergewicht auf. Beim Mann tritt die Belastungsinkontinenz eher selten auf, hier vor allem nach operativen Eingriffen an der Vorsteherdrüse oder nach Unfällen. Eine Einteilung anhand der Schwere der Erkrankung in unterschiedliche Grade der Inkontinenz hilft bei der Auswahl der diversen therapeutischen Möglichkeiten.
Hierzu zählen:
- Gewichtsreduktion bei Übergewicht
- Beckenbodengymnastik/Biofeedback
- Inkontinenzhilfen
- Vaginale oder rektale Elektrostimulationstherapie
Medikamentöse Therapien:
- Lokale vaginale Östrogenanwendung
- zur Verstärkung des Schließmuskels z.B. Duloxetin (Yentreve®)
- zur Verbesserung der Blasenkapazität z.B. Solifenacin (Vesikur®), Darifenacin (Emselex®), Trospiumchlorid (Spasmex®), Tolterodin (Detrusitol®) Oxybutinin (Dridase®) oder andere
Operative Therapien:
- vaginale Band-OP (z.B. TVT, TOT etc.)
- offene oder laparoskopische Blasenhebung (OP nach Burch)
- Ballonimplantation zur Unterstützung des Schließmuskels (z.B. Pro-ACT)
- Künstlicher Schließmuskel (AMS 800)
- vaginale Wiederherstellung des Beckenbodens vorderes und hinteres Netzband (sog. MESH)
- offene oder laparoskopische Wiederherstellung des Beckenbodens durch Fixation der Scheide mittels Kunststoffnetz (Sakrokolpopexie)
Dranginkontinenz
Hierunter versteht man einen unwillkürlichen Urinabgang mit oder nach plötzlichem Harndrangempfinden. Die Blase meldet sich plötzlich „als komplett gefüllt“ und der Harndrang kann nicht mehr unterdrückt werden, bis die Toilette erreicht wurde. Manchmal kommt es auch bei nur wenig gefüllter Blase zum plötzlichen und unkontrollierten Harndrang und dann zum Abgang von Urin.
Bei dieser Form der Inkontinenz ist der Verschlussmechanismus der Harnröhre eigentlich intakt, jedoch liegt eine Fehlfunktion des Blasenmuskels (des Entleerungsmuskels) vor. Dabei werden Störungen der Harnblasenempfindung (Sensitivität) und das nicht-steuerbare Zusammenziehen (Kontraktionen) der Harnblasenmuskulatur unterschieden. Der Patient leidet an einem ständigen Gefühl des Harndrangs, das nicht unterdrückbar ist und zu häufigen Toilettengängen führt, wobei nur geringe Harnmengen entleert werden.
An therapeutischen Maßnahmen stehen zur Verfügung:
- Inkontinenzhilfen
- Harnblasen-/Toilettentraining
- Biofeedbacktraining
- Vaginale oder rektale Elektrostimulation
- Medikamentöse (blasendämpfende) Therapien
- Botulinum-Toxin-A-Einspritzung in den Blasenmuskel (nach erfolgloser medikamentöser blasendämpfender Therapie)
- Ggf. elektrische Stimulation bestimmter Rückenmarksnerven, wodurch eine Linderung der Beschwerden erreicht wird (nach erfolgloser medikamentöser blasendämpfender Therapie)
Mischinkontinenz: Hierunter versteht man eine Kombination aus Belastungs- und Dranginkontinenz. Die therapeutischen Möglichkeiten richten sich nach den vorherrschenden Beschwerden. Mischinkontinenz liegt ebenfalls häufig vor.
Weitere Inkontinenzformen
Neben der Belastungs- und Dranginkontinenz und deren Mischformen gibt es noch weitere Inkontinenzformen, die abzugrenzen sind. Dabei werden der nächtliche Urinverlust, die neurogene Inkontinenz und die Überlaufinkontinenz unterschieden.
Nächtlicher Urinverlust
Hierunter versteht man jeglichen unwillkürlichen Urinverlust während des Schlafens, v.a. bei Kindern und Babys. Bezeichnet wird diese Inkontinenz als Enuresis.
Die therapeutischen Möglichkeiten umfassen:
- Medikamentöse Therapien
- Verhaltenstherapeutische Therapien (z. B. Klingelhose, Wasserlassen nach der Uhr)
Neurogene Inkontinenz
Diese Inkontinenzform wird auch als Reflexinkontinenz bezeichnet. Die Ursache dieser Inkontinenzform liegt in einer Störung der blasenversorgenden Nerven oder des Rückenmarks oder des Gehirns, bei der es zu einer Fehlfunktion der Blasentätigkeit kommt (z.B. nach einem Schlaganfall oder bei einer langjährigen Zuckererkrankung). Je nachdem, wo und wie die Nerven, das Rückenmark oder das Gehirn geschädigt sind, können unterschiedliche Blasenentleerungsstörungen vorkommen (erhöhte Blasenaktivität, geringe Blasenaktivität mit Restharnbildung).
Überlaufinkontinenz
Betroffen sind vor allem Männer. Hierbei liegt häufig eine Abflussbehinderung im Bereich des Blasenausgangs vor (z.B. eine Vergrößerung der Vorsteherdrüse / Prostata). Der Blasenmuskel wird dadurch langfristig überdehnt und es kommt zum Überlaufen der Harnblase, wobei der Patient ein ständiges Tröpfeln beschreibt. Therapeutisch kommen in solchen Fällen in Betracht: Katheterisierung, ggf. in Kombination mit medikamentöser Therapie, operatives Vorgehen (z.B. Ausschabung der Prostata (TUR-P), Laserbehandlung der Prostata (GreenLight Laser)).
Des Weiteren gibt es noch situationsabhängige Inkontinenzepisoden (z.B. beim Geschlechtsverkehr oder beim Kichern).
Senkungsbeschwerden
Die Senkung (Tiefertreten) von Harnblase, Gebärmutter, Scheidenstumpf nach Gebärmutterentfernung und Enddarm kann zahlreiche Beschwerden hervorrufen.
Es kann zu einem Druckgefühl oder Schmerzen im Beckenboden kommen, viele Frauen beschreiben dies auch als Druckgefühl nach unten. Oft werden auch Rückenschmerzen angegeben. Viele Patientinnen haben unwillkürlichen Urinabgang beim Husten, Niesen oder bei körperlicher Aktivität. Auch häufige Blasenentzündungen oder chronische Verstopfung können Symptome sein.
Bei gesunden Frauen sind die Harnblase, die Gebärmutter und der Enddarm durch Bänder und Bindegewebsstrukturen im Becken elastisch aufgehängt. Alle Strukturen liegen auf dem Beckenboden, einer hängemattenartigen Muskelplatte. Alle Strukturen sind beweglich zueinander aufgehängt, so kann z.B. die Gebärmutter einer vollen Blase oder dem gefüllten Darm ausweichen.
Senken sich Harnblase, Scheide, Gebärmutter oder Darm durch Schwäche des Beckenbodens, wird von Senkung (Descensus) gesprochen. Dafür verantwortlich können Geburten, angeborene Bindegewebs- und / oder Muskelschwäche sowie Überbelastungen oder der Elastizitätsverlust in den Wechseljahren oder Fettleibigkeit sein. Von Vorfall (Prolaps) sprechen wir, wenn sich die Beckenorgane beim Pressen in den Scheideneingang vorwölben.
Untersuchungen bei Harninkontinenz
Zunächst findet ein ausführliches Gespräch mit dem behandelnden Urologen statt, der gezielt Fragen zu Krankenvorgeschichte, vorausgehenden Operationen, Ausmaß, Anlass und Begleitumständen unkontrollierter Urinverluste stellt.
Auch wenn die spezielle „Anamnese“ (Erhebung der Krankengeschichte) sehr wegweisend ist, sind zur sicheren Zuordnung zu einer der Erkrankungen immer Zusatzuntersuchungen erforderlich. Es folgen eine körperliche Untersuchung mit besonderem Augenmerk auf die Organe des Harntrakts (Geschlechtsorgane sowie Blase), eine Harnanalyse sowie eine Ultraschalluntersuchung. Gerade bei der Belastungsinkontinenz hat sich in der jüngsten Vergangenheit die sogenannte Introitussonographie (Ultraschalluntersuchung des Scheideneingangs, der Harnröhre und des Blasenhalses) neben der Perinealsonographie als wichtige Untersuchung gemeinsam mit der vaginalen urogynäkologischen Untersuchung erwiesen. Gegebenenfalls kommen spezielle Röntgenaufnahmen der Blase und der ableitenden Harnwege, eine Blasenspiegelung zum Einsatz. Die Blasendruckmessung (Urodynamik oder Videourodynamik) ist ein unverzichtbares Instrument, um die verschiedenen Formen der Harninkontinenz sicher voneinander abzugrenzen. Diese Verfahren sind meist ambulant durchführbar, in der Regel für die Patienten wenig belastend und weitgehend schmerzfrei; sie ermöglichen dem erfahrenen Urologen, die Ursache der Harninkontinenz zu diagnostizieren und somit eine geeignete Therapie festzulegen.
Eine sorgfältige Diagnostik bildet die entscheidende Voraussetzung für eine optimale und individuell angepasste Therapie von Inkontinenz und Beckenbodenschwäche bzw. Senkung und Vorfall.
Konservative Therapiemöglichkeiten
Die Therapie von Inkontinenz und Beckenbodenschwäche bzw. Senkung und Vorfall ist von der genauen Untersuchung und Diagnose abhängig. So ergeben sich bei Belastungsinkontinenz andere Möglichkeiten der Behandlung als bei der Diagnose Dranginkontinenz. Sollte zusätzlich noch eine Senkung vorhanden sein, muss diese unbedingt bei der Auswahl des Behandlungsverfahrens berücksichtigt werden.
Allen Diagnosen gemeinsam ist jedoch, dass zunächst ein konservativer Therapieversuch geprüft werden sollte, d.h. ob nicht mit krankengymnastischer und medikamentöser Behandlung das Ziel erreicht werden kann.
- Gezielte krankengymnastische Übungen: Ziel ist die Wiederherstellung eines noch funktionsfähigen Beckenbodens durch Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur und damit der Harnröhrenverschlussmechanismen (Beckenbodengymnastik) sowie Übungen für die willkürliche Kontrolle der Blase (Biofeedbacktraining)
- Gezieltes Toilettentraining, d. h. Einüben einer regelmäßigen und willkürlich gesteuerten Blasenentleerung
- Einsatz von Vorlagen und/oder speziellen Urinableitsystemen
- Inkontinenzhilfen
- Gewichtsreduktion bei Übergewicht
- Vaginale oder rektale Elektrostimulationstherapie
Medikamentöse Therapien:
- Lokale vaginale Östrogenanwendung
- Verstärkung des Schließmuskels z.B. Duloxetin (Yentreve®)
- Einnahme von Anticholinergika (Medikamente mit dämpfender Wirkung auf die Harnblase) bei überaktivem Blasenmuskel
- zur Verbesserung der Blasenkapazität z.B. Solifenacin (Vesikur®), Darifenacin (Emselex®), Trospiumchlorid (Spasmex®), Tolterodin (Detrusitol®) Oxybutinin (Dridase®) oder andere
Operative Therapiemöglichkeiten
Bei Harninkontinenz und Beckenbodenschwäche mit nachfolgender Senkung von Blase und/oder inneren Geschlechtsorganen (Blasen- / Gebärmutter- / Scheidenvorfall) kommen verschiedene Korrekturoperationen zum Einsatz. Die zur Verfügung stehenden Operationstechniken werden entweder durch einen Unterbauchschnitt oder von der Scheide aus durchgeführt. Neuerdings werden diese Eingriffe auch „minimal-invasiv“ (Knopflochchirurgie) vorgenommen, d.h. mit sehr geringer Belastung durch die Operation.
TVT und TOT
Das TVT-Band hat seit 1995 die Behandlung der Harninkontinenz revolutioniert. Während früher die Burch-Kolposuspension der Gold-Standard in der Inkontinenzbehandlung war, haben die Gewebebänder als minimal-invasive Operationen mit hervorragenden Langzeitergebnissen dies nachhaltig geändert.
Die Abkürzung TVT steht dabei für „tension free vaginal tape“, auf Deutsch also spannungsfreies Vaginalband.
Bei diesem Verfahren wird ein Gewebeband unter der Harnröhre eingelegt und im Bereich des Unterbauchs ausgeleitet. Das Gewebeband besteht heute zumeist aus einer Kombination von vom Körper abbaubaren und dauerhaft verbleibenden Netzbändern. Wichtig ist es, dass dieses Band ohne Spannung verlegt wird. Ziel des Bandes ist es, die Harnröhre bei Belastung zu stabilisieren und den unwillkürlichen Urinverlust aufgrund eines nicht ausreichenden Blasenverschlussmechanismus zu verhindern.
Alternativ zum TVT kann auch ein sogenanntes TOT-Band eingesetzt werden. TOT steht dabei für „trans-obturator tape“ Im Unterschied zum TVT erfolgt bei diesem Band die Ausleitung nicht im Unterbauch, sondern seitlich in den Oberschenkelbeugen (auf Höhe der Schamlippen). Der Vorteil dieser Variante ist, dass es zu weniger Verletzungen der Harnblase kommt und auch ein versehentliches übermäßiges Anspannen (also zu viel Spannung) nahezu sicher vermieden werden kann. Die Ergebnisse hinsichtlich der Kontinenzraten von TOT und TVT sind vergleichbar.
Kolposuspension nach Burch
Die Kolposuspension nach Burch war über Jahre hinweg die wichtigste Korrekturoperation bei der Belastungsinkontinenz. Sie wurde auch als sogenannter Gold-Standard bezeichnet.
Über einen offenen oder laparoskopischen Zugang wird das seitliche Scheidengewölbe über Halte-Nähte an einer festen körpereigenen Bandstruktur im Bereich der Leiste nahe der Schambeinäste aufgehängt. Das Verfahren hat ausgezeichnete Langzeitergebnisse. Die Operation wird heute meist minimal-invasiv vorgenommen, z.B. als robotisch unterstützte Operation, die sogenannte Da Vinci Kolposuspension nach Burch.
Vaginale Beckenbodenkorrektur
Neben der Behandlung bei alleiniger Inkontinenz kommt der Korrektur des Beckenbodens ein sehr großer Stellenwert zu. Bei Senkung oder Vorfall von Blase, Scheide, Gebärmutter und Darm sind heute neben den klassischen Korrekturmethoden einige neue und ebenfalls wenig belastende Verfahren als Erweiterung der sogenannten Prolaps-Chirurgie dazugekommen.
Zu unterscheiden sind hier die Verfahren, die von der Scheide aus vorgehen, von den Verfahren, die den Zugang über den Bauchraum wählen. Die Entscheidung über den Zugangsweg trifft der behandelnde Urogynäkologe aufgrund der vorausgegangenen Untersuchungen und in Abhängigkeit von Vorerkrankungen und Voroperationen.
Eine Senkung der Blase mit dem vorderen Scheidengewölbe kann je nach Ursache mit einer Raffung und/oder Stabilisierung der vorderen Scheidenwand (vordere Kolporrhaphie oder einer paravaginalen Kolpopexie ) behandelt werden.
Bei einem Vorfall des hinteren Scheidengewölbes (Rektozele) wird eine Raffung der hinteren Scheidenwand (hintere Kolporrhaphie) vorgenommen.
Diese Verfahren sind nur bei geringerer Bindegewebsschwäche ausreichend. Bei ausgeprägtem Vorfall und/oder erheblicher Bindegewebsschwäche sind jedoch die Netzplastiken, bei denen durch Einlage eines dauerhaft verbleibenden Netzes die Anatomie wiederhergestellt wird, von Vorteil. Diese Netze entsprechen denen, die sich auch bei der Behandlung von Leistenbrüchen bewährt und weitgehend durchgesetzt haben.
Zur Verstärkung des Beckenbodengewebes kann von der Scheide aus zur Blase oder zum Enddarm hin ein Kunststoffnetz eingebracht werden. Die Netze werden sicher verankert und stellen die normale Anatomie wieder her.
Diese modernen Verfahren haben in geübter Hand hervorragende Langzeitergebnisse. Aber auch wenn die beschriebenen Eingriffe „minimal-invasiv” sind, also wenig belastend sind, so ist die Information über den Eingriff, sowie auch über mögliche Komplikationen und Schwierigkeiten im Vorfeld besonders wichtig.
Sakrokolpopexie
Die Sakrokolpopexie dient der Wiederherstellung des Beckenbodens. Über den offenen oder laparoskopischen Zugangsweg kann der Eingriff auch mit anderen ggf. notwendigen Operationen, wie Inkontinenzoperation nach Burch oder der Entfernung der Gebärmutter kombiniert werden.
Laparoskopische Operationstechniken verbinden die Vorteile der altbewährten Techniken mittels Bauchschnitt mit jenen der weniger belastenden Schlüssellochchirurgie. Seit 2007 wird der Eingriff auch mit der Da Vinci Technik (sogenannte Da Vinci Sakrokolpopexie) durchgeführt. Die Da Vinci Methode bietet neben der kosmetisch günstigeren Schlüssellochtechnik mit robotischer Unterstützung eine besonders präzise und sichere Operation mit sich. Entscheidend ist jedoch immer, dass die richtigen Indikationen für laparoskopische oder offene Verfahren gewählt werden. Bei der Sakrokolpopexie wird eine Fixation der Scheide mittels eines dauerhaft im Körper verbleibenden Gewebenetzes im Bereich der Kreuzbeinhöhle vorgenommen und die Anatomie damit wiederhergestellt.
Botulinumtoxin bei Inkontinenzproblemen
Kommt es bei der Dranginkontinenz (neurogen bedingt oder mit nicht weiter klärbarer Ursache) zu keiner Besserung der Symptomatik trotz der Einnahme von anticholinergen Medikamenten, die hemmend auf die Harnblase wirken, steht die Botox-Injektion zur Wahl: Botulinum Toxin A ist den meisten Patienten im Zusammenhang mit der ästhetischen Chirurgie (z.B. Behandlung von Fältchen im Gesicht) bekannt, aber auch in der Urologie wird dieses Medikament äußerst erfolgreich eingesetzt.
Botulinum Toxin ist die wissenschaftliche Bezeichnung für das Gift der Milzbrandbakterien (Clostridium botulinum). Dieses in richtiger Dosierung auch als Medikament einsetzbare Gift hat als früher vom Militär eingesetztes Nervengift traurige Bedeutung erlangt. Botulinum-Toxin (BTX) ist das stärkste bekannte Gift, bereits 10 ng können einen erwachsenen Menschen töten. Seit einigen Jahren steht BTX nun als Medikament zur Verfügung. Drei verschiedene Präparate werden angeboten, die zunehmend für Funktionsstörungen der Muskulatur eingesetzt werden.
Zur Therapie der Dranginkontinenz wird das Medikament stark verdünnt bei einer Blasenspiegelung über eine dünne Nadel an sehr vielen Stellen in den Blasenmuskel eingespritzt. Das Medikament hemmt die Freisetzung eines Überträgerstoffes (Acethylcholin) am Übergang vom Nerv zum Blasenmuskel, sodass ein überaktiver Blasenmuskel „ruhig gestellt“ wird. Bis diese Ruhigstellung eintritt, können ein bis drei Wochen vergehen. Das Verfahren ist sicher. Angst vor einer Vergiftung ist bei sorgfältiger Anwendung durch einen erfahrenen Arzt nicht begründet. Die Injektion von Botulinum Toxin A führt bei vielen Patienten zu einer deutlichen Besserung ihrer Beschwerden für einen Zeitraum von neun bis zwölf Monaten. Danach muss die Behandlung wiederholt werden.
Neuromodulation
Bei dieser Therapieform werden die Nervenfasern, die die Blase und den Schließmuskel versorgen, durch einen sogenannten Blasenschrittmacher gesteuert. Hierbei werden dünne Elektroden an die Nerven im Bereich des Steißbeins implantiert. Durch die sich anschließende, nicht schmerzhafte elektrische Nervenstimulation kann auf die Blasenfunktion eingewirkt werden, sodass eine Normalisierung einer zuvor fehlgesteuerten Blasenfunktion möglich ist.
Vor einer dauerhaften Anwendung dieser Therapieform erfolgt zunächst eine Testphase über ca. sieben Tage („PNE-Test“), in der untersucht wird, ob der Patient für diese Therapieform infrage kommt. Bei erfolgreichem Test wird neben dauerhaften Elektroden ein Blasenschrittmacher (Neuromodulator) implantiert. Der Patient erhält anschließend eine Fernsteuerung, mit der er die Blasenentleerung durch Stimulation der Nerven gezielt auslösen bzw. unterdrücken kann. Über diese Fernsteuerung wird auch die Stärke der Stimulation eingestellt. Dieses Verfahren wird nur in wenigen neurourologischen Zentren angeboten.